Neues Jahr, neues Glück. Ehrlich, 2013 soll alles anders werden, einfacher, besser, schneller, ordentlicher. Es gibt ja so gute Vorsätze! Und die sind auch dringend nötig, denn so geht es nicht weiter: Die Reisekostenabrechnungen vom letzten Halbjahr, das Geburtstagsgeschenk für die Abteilungssekretärin besorgen, Urlaubsfotos einkleben, die Steuererklärung und die Bügelwäsche – es gibt immer etwas zu tun, und vieles davon ist irgendwie dringend.
Manchmal sind all die wichtigen Projekte so einschüchternd, dass das Umgraben des Rosenbeetes plötzlich als ungeheuer attraktive Alternative erscheint. Am Ende des Tages ist das Formular für die Steuererklärung immer noch jungfräulich, aber das Beet ist top gepflegt. Das ist das Dilemma: Selbst wer eine Aufgabe beherzt anpackt, schiebt damit die anderen auf. Für das Phänomen der besonders hartnäckigen Aufschieberitis gibt es in den USA bereits seit langem einen schönen Fachbegriff: Prokrastination.
Ohne jegliche Selbstdisziplin
In den letzten dreissig Jahren sind über 700 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Thema Prokrastination (von lat. cras = morgen) erschienen. Ergebnis: Knapp ein Viertel der Bevölkerung zählt zu den harten Prokrastinierern – und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht, Bildung und Nationalität.
«Die beeindruckendsten Menschen, die ich kenne, sind alle fürchterliche Prokrastinierer», schreibt US-Experte Paul Graham in einem Essay. «Könnte es sein, dass Prokrastination gar nicht immer schlimm ist?»
Diese Erkenntnis setzt sich auch hierzulande langsam durch. Bachmannpreisträgerin Kathrin Passig und Co-Autor Sascha Lobo haben sogar ein Buch darüber geschrieben («Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin»). Darin machen sie gerade den Menschen Mut, die stets einen Berg von Aufgaben vor sich herschieben, denen Mahnungen und Strafandrohungen ins Haus flattern, die statt das Dringende und Naheliegende zu tun, neue Projekte beginnen und auch unter extremem Druck nicht annähernd so funktionieren, wie all die simplifizierenden Lebensratgeber es für richtig halten. Für solche Anhänger des «Lifestyle of Bad Organisation» führen sie die liebenswerte Bezeichnung «Lobo» ein.
Mit Selbstdisziplin gegen mangelnde Selbstdisziplin?
Lobos sind geplagte Menschen. Sie agieren oft am Rande der Überforderung, sie stehen unter gesellschaftlichem Druck, der von bunten Briefen der Steuerbehörde, von Mahnstellen, Vermietern und Bankberatern noch unterstützt wird. Sie sind viele, und sie sind die Zielpersonen für ganze Festmeter von Ratgeberbüchern. Ob über Sport, Diät, Aufräumen oder Zeitmanagement – sie alle haben den Grundtenor: «Reiss dich zusammen!» Dazu gibt es Motivationstipps und Listensysteme, die den überfordernden, chaotischen Alltag einfacher machen sollen. Unnötig zu sagen, dass diese bei Lobos unmöglich greifen können. Im Grunde raten herkömmliche Ratgeber, der mangelnden Selbstdisziplin mit Selbstdisziplin zu Leibe zu rücken – ein hoffnungsloses Unterfangen.
Dabei heisst Prokrastinieren ja nicht nichts tun. Studenten, die für eine Prüfung lernen müssen, fangen an, ihr Zimmer zu putzen, vielleicht lernen sie aber auch eine Fremdsprache; Freiberufler, die eine Grafik oder einen Text liefern sollen, verlegen sich aufs Backen oder Bügeln, oder sie gründen einen Verein. Oft genug ist die Ersatztätigkeit nicht etwa einfacher oder angenehmer als die, die eigentlich ansteht.
Trotzdem erfolgreich sein
Viele Menschen fuchsen sich mit Ausdauer und Hingabe in hoch komplizierte Computerspiele mit der Steuerungskomplexität einer Raumfähre ein, obwohl das weit mühsamer ist als die Power-Point-Präsentation, die übermorgen fällig ist. Prokrastinieren kann man, indem man nichts tut, etwas weniger Wichtiges oder etwas Wichtigeres. Die dritte Variante ist laut Graham die «gute Prokrastination».
Die Flickr-Gründer entwickelten ihre Fotosharing-Plattform, die sie reich gemacht hat, während sie eigentlich ein heute vergessenes Spiel für ihre «Arbeit» hielten. Linus Torvalds brauchte für sein Informatikstudium acht Jahre, weil er sich mit dem Entwickeln des Betriebssystems Linux beschäftigte, Robert Schumann spielte Klavier, statt sich seinem Jurastudium zu widmen.
Manchmal wird der Nutzen der Ersatzhandlung auch gar nicht offensichtlich, weil er im Verborgenen liegt. Während man mit nichtigem Kram seine Zeit verplempert, formen sich in dunklen Winkeln des Gehirns Ansätze für die eigentliche Aufgabe, man bereitet sich innerlich vor. Ausserdem erhöht sich mit dem Warten der Zeitdruck, der für Lobos meist notwendig ist, um überhaupt in die Gänge zu kommen.
Besser keine Vorsätze fassen
Anfangen allein reicht jedoch nicht. Wenn das Arbeiten an einem Projekt zäh und mühselig wird und immer neue Ersatztätigkeiten hermüssen, um die ungeliebte Aufgabe aufzuschieben, stellt sich weniger die Frage, wie man das Projekt vollendet, als: Warum nicht aufgeben? Auch jedem Ende wohnt schliesslich ein Zauber inne. «Was ich angefangen habe, bringe ich zu Ende» klingt nach einem guten Vorsatz. «Auch völlig bescheuerte, Energie raubende und ertraglose Projekte, die ich nun mal angefangen habe, bringe ich zu Ende» hört sich, obwohl nur leicht variiert, ganz anders an. Doch wann sollte man seine guten Vorsätze aufgeben? Zwischen dem Anfang einer leichten Arbeitsunlust und dem arbeitsbedingten Nahtoderlebnis gibt es unzählige Warnsignale.
Den grössten Frieden mit den eigenen Unzulänglichkeiten und der Umwelt erreicht man meist ohne Vorsätze, wenn man pragmatisch einen Kompromiss findet zwischen «lieber gar nichts ändern» und «ab sofort rund um die Uhr ausschliesslich daran arbeiten, dass alles perfekt wird». Das in der Wirtschaft bekannte Pareto-Prinzip besagt, dass die letzten 20 Prozent einer Arbeit 80 Prozent der aufgewendeten Zeit und Mühe kosten. Und umgekehrt, dass nach 20 Prozent der Zeit die Arbeit bereits zu 80 Prozent erledigt ist. Die immerhin schon ziemlich gute Arbeit ist der Spatz in der Hand, den Auftraggeber gern einer später gelieferten Taube vorziehen. Viele berühmte Werke sind unvollendet, was ihrem Erfolg nicht schadet, weshalb auch dieser Artikel einfach mittendrin (Quelle: Tagesanzeiger; 5.1.2013)